
Vom 10. Juli bis zum 14. August 2022 fanden am St. Peter um 17.00 Uhr Sommerabendgottesdienste an Stelle der Morgengottesdienste statt – mit einem Schwerpunkt auf der «Lieblingslektüre» der Predigenden.
Ein Lieblingsbuch aller Predigenden ist die Bibel. Sie ist voller beispielhafter Erzählungen, die das Leben schrieb. Was ist der Mensch? Und wie ist sein Verhältnis zu Gott und zur Mitwelt? Wie lebe ich? Was bedeutet es, geboren zu werden? Und was erwartet mich, wenn ich einmal sterbe – oder wenn ein naher Mitmensch stirbt? Wie leben wir zusammen? Wie feiern wir? Und wie gehen wir um mit unserer Fehlerhaftigkeit und der des Gegenübers? Fragen über Fragen, die sich uns allen irgendwann einmal stellen im Verlauf des Lebens.
«Sola scriptura» ist ein reformatorischer Grundsatz. Dabei verbietet dieser Grundsatz nicht, auch andere Bücher zu lesen – sondern erinnert daran, dass die Bibel genügt, die Heilsbotschaft zu vermitteln – und es keiner Ergänzung weiterer kirchlichen Überlieferungen bedarf. Wenn nun im Sommer Belletristik neben die Bibel gestellt wird im Gottesdienst, dann nicht, um das Heil in diesen Büchern zu suchen und zu finden, sondern die Zeit dieser modernen Bücher ins Gespräch mit der biblischen Zeit zu bringen. Wie wird Theologie in Weltliteratur und weltlicher Literatur vermittelt? Ist Religion ein Thema? Wie wird Gesellschaft wahrgenommen? Wie wird Glaube gelebt und was hat Kirche damit zu tun? Wie wird Leben beschrieben? In welchen Abhängigkeiten? Wonach sehnen sich die Hauptfiguren in den ausgewählten Werken? Was wünschen sie sich? Kommt Heil vor? Und wenn ja, welches Heil?
Die Werke, die in dieser Sommerabend-Reihe vorkamen, müssen nicht gelesen sein, um die Gottesdienste mitfeiern zu können. Vielleicht aber animieren die Gottesdienste, eines dieser Bücher zu lesen? Oder die eigene Sommerlektüre unter einer theologischen Fragestellung zu lesen?
Gemäss dem amerikanischen Soziologen und Erziehungswissenschaftler David Riesman trägt das Lesen dazu bei, dass «der von den Zwängen der Tradition geprägte Mensch stärker durch Vernunft und innere Reflexion geleitet wird». Eine Predigtreihe, die zur belletristischen Sommerlektüre ermuntert, steht also durchaus in einer reformatorischen Tradition! Lesen befreit! Mit der Reihe «Lieblingslektüre» am St. Peter verraten die Predigenden nicht nur etwas über den Inhalt der gewählten Bücher, sondern auch einiges über sich!
In einem Hibiskusgarten wächst Kambili auf. Aber mit 15 ist ihre Kindheit zu Ende. Kambilis Welt fällt dem nigerianischen Bürgerkrieg zum Opfer. Dabei war ihr Leben schon vorher die Hölle: Der gewalttätige Vater tyrannisierte die Familie mit Erziehungsmethoden, die er auch noch christlich nennt. Das Christentum kommt nicht gut weg im Erstlingswerk von Chimamanda Ngozi Adichie. Wie ihre Romanfigur wuchs die Autorin (Jg. 1977) in der nigerianischen Upper-Class auf. In den 90ern ging sie zum Studieren in die USA, wo sie in ganz neuem Stil zu schreiben begann, von sich: einer Afrikanerin.
Gleich mit diesem Erstlingsroman landete die nigerianische Autorin 2015 einen Weltbestseller. Und das, obwohl es ernste Themen sind, die sie aus Sicht eines 15jährigen Mädchen packend beschreibt. Aber genau das ist ihr Talent: einen «Pageturner» zu schreiben, der die intellektuellen Debatten über Gender und Postkolonialismus scheinbar links liegen lässt und uns auf Herzhöhe erreicht.
Chimamanda Ngozi Adichie, Blauer Hibiskus. Fischer Verlag, Frankfurt am Main.
Pfrn. Cornelia Camichel Bromeis, Liturgie • Judith Wipfler, Predigt • Margrit Fluor, Orgel
Anschliessend Apéro
Sadio Cissokho aus Senegal reisst mit Djemberhythmen mit!
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Vor 100 Jahren, am 2.2.1922 erschien James Joyce’ «Ulysses», ein Roman in 18 Episoden, über 700 Seiten stark. An seinem Ende der Vermerk: «Triest – Zürich – Paris 1914-1921». Im selbst gewählten Zürcher Exil hatte der irische Schriftsteller weite Teile des Werks geschaffen.
Der als Schlüsseltext der Moderne bezeichnete Roman schildert einen Allerweltstag, den 16. Juni 1904 im Leben des Dubliner Anzeigenverkäufers Leopold Bloom, seiner Frau, der Sopranistin Molly Bloom, und des jungen Lehrers Stephen Dedalus. Durch ganz Dublin ziehen sich die Handlungsorte des Romans, die mit mehr als 300 weiteren Figuren bespielt sind. Ulysses präsentiert sich als eine Art Wimmelbuch. Die Auseinandersetzung mit dem Werk, seinen Sprachspielen, Querbezügen und Verweisen ist denn auch unerschöpflich. Der Gottesdienst wählt eine flanierende Lektüre, nimmt mit auf musikalische und theologische Streifzüge durch Ulysses, macht Halt, wo der Text vergnügt oder herausfordert, und spinnt die Gedanken weiter im stream of consciousness.
James Joyce, Ulysses. Suhrkamp, Berlin.
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Pfrn. Dorothea Wiehmann Giezendanner
12 Jahre Gemeindepfarrerin in Altdorf/UR
19 Jahre in Ascona/TI
von 2002 bis 2010 theol. Leiterin vom Kloster Kappel
lebt in Ascona/TI
Die Novelle stellt die Erlebnisse von Preising, eines allein lebenden Schweizer Unternehmenserben in den Mittelpunkt. Preising erzählt diese, während er, höchst anspielungsreich, mit dem Ich-Erzähler in einer psychiatrischen Klinik befindet: Als Hotelgast in Tunesien wird er Teil einer eindrucksvoll gezeichneten englischen Hochzeitsgesellschaft wird, die durch einen Staatsbankrott des britischen Königreiches über Nacht zahlungsunfähig ist. Daraufhin mutiert das Verhalten eines Großteils der Anwesenden in Gewalttätigkeit und Verrohung und endet mit der Inbrandsetzung der Hotelanlage sowie der Flucht aus der Oase.
Ganz und gar Kulturrelativist, scheint Preising eigentlich nur darauf bedacht zu sein, in jeder Hinsicht Abstand vom Geschehen zu gewinnen und wird doch immer stärker sachlich und emotional involviert. Dieses Involviert-Werden treibt ihn immer weiter und immer tiefer in innere Widersprüche. Die Leser:innen verwickelt er dabei in die Frage, wie kulturrelativ man handeln kann, wo die eigenen Widerstände, sich von moralischen Appellen beeinflussen lassen, liegen, und wie die Normen einer Weltgesellschaft aussehen könnten.
Jonas Lüscher, Der Frühling der Barbaren. C. H. Beck, München.
Johanna steht am Bett ihrer toten Mutter und hört, wie sie atmet. Mit dieser Sinnestäuschung beginnt die Inventur einer Kindheit. Den Plastiksack mit den letzten Habseligkeiten der Verstorbenen in der Hand, verlässt Johanna das Krankenhaus, in das sie zuletzt täglich von ihrem 100 Kilometer entfernten Wohnort aus angereist war. Nun kehrt sie zurück in die mütterliche Wohnung, in der sie selbst vor langer Zeit einmal gelebt hat. Zwanghaft sortiert sie die Textilien nach Temperaturverträglichkeit, und während das Wasser in die Waschmaschine läuft und die Trommel zu rotieren beginnt, werden kaum beachtete alltägliche Dinge zu Auslösern für die Erinnerung an vergessene Wörter und Erlebtes. Früher Selbstverständliches wie die tägliche Fahrt von Mutter und Tochter zum Grab des Grossvaters erscheint nun in einem unheimlichen, verstörenden Licht. Und überhaupt wird plötzlich fragwürdig, was einmal so harmonisch wirkte zwischen den beiden. Die Genauigkeit und die bohrende Intensität, mit der Angelika Overath ihre Protagonistin die verschütteten Erinnerungen zur Sprache bringen lässt, gibt eine Ahnung davon, wieviel Ungesagtes darin mitschwingt. Ganz ähnlich verhält es sich auch mit den Geschichten aus dem Sudetenland, die Mutter und Großmutter seinerzeit mehr verschwiegen als erzählt haben. Johanna, die immer wieder versucht, die Wohnung zu verlassen, sitzt gespenstisch fest, bis sie gegen Mitternacht eine Pizza bestellt und die Pizzabotin Svetlana, eine russlanddeutsche Lehrerin aus dem Kaukasus, sich zu ihr an den Küchentisch setzt.
Angelika Overath, Nahe Tage – Roman in einer Nacht. btb, München.
«Magdalenas Sünde» ist eine Erlösungsgeschichte im herbstlichen Zürich. Sie erzählt von Sehnsucht, Nähe, Freundschaft und Fantasie in einer Welt voller Gewalt und sexueller Obsession. Die Realität der Konditoreiverkäuferin Magdalena ist düster. Verlust und Schuld quälen die Bulimikerin und Ex-Prostituierte. Ihr krebskranker Vater dämmert dem Tod entgegen. Ihr Freund und Beschützer macht Pause, weil er ihre zerstörerische Beziehung mit einem selbsternannten Grossschriftsteller nicht länger aushält. Magdalena denkt an Suizid und verlangt gleichzeitig nach einem Wunder. Sie erzwingt es in einem Akt der Selbstermächtigung, als an einem Sonntag ein Mensch in ihr Leben tritt, der nichts mehr zu verlieren hat.
Romana Ganzoni, Magdalenas Sünde. Telegramme, Zürich. (Neuauflage im November 2022 bei Diogenes)
Pfrn. Cornelia Camichel Bromeis (Liturgie) im Gespräch mit der Autorin Romana Ganzoni aus Celerina/GR • Roswitha Hächler, Orgel
Anschliessend Apéro
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